Eine Geschichte zum Nachdenken:

Du Trampeltier

Übersicht der Barfußpfadgeschichten

Wenn Menschen zu Unrecht eingesperrt, ihrer Freiheit beraubt werden, dann müsste ich sie unter Aufgebot meines Lebens befreien, aus ihren Kerkern und Gefängnissen wieder herausholen. Das weiß ich, und ich halte mich immer fern von solchen Orten, die mir Heldentum abverlangen würden. Aber wenn die Freiheit des Geistes von törichten Vorurteilen gefangengesetzt wird – kann ich dazu schweigen?

Es geschah an der Fußdusche des Barfußparks.

Ein Elternpaar wusch die Erde von den Füßen seines Kindes. Kaum waren sie damit fertig, rannte das Kind los auf die grüne Wiese. "Komm sofort zurück, du hast keine Schuhe an!" rief die Mutter, doch das Kind lief weiter. Die Füße flogen förmlich, die Augen leuchteten. "Deine Füße werden wieder schmutzig, komm auf der Stelle zurück!" Die Füße flogen noch schneller. "So geht es nicht, du warst letzte Woche erkältet!!!" Das Kind stolperte, rappelte sich hoch, wollte weiterrennen.

Es geschah an der Fußdusche.

Der Vater hechtete hinterher, fing den Kleinen ein, packte ihn, um ihn zurückzutragen. Da sah ich die Seele des Kindes sterben, diesen kleinen Moment, in dem die Züge entgleisen, bevor der Schmerz über den Stich ins Herz aus dem kleinen Menschlein herausschreit. Dieser schneidende Schmerz! "Sei ruhig und zieh deine Schuhe an, sonst setzt es was!" Andere Leute, die gerade ihre Füße wuschen und noch die letzten Erdkrumen unter den Fußnägeln herauspuhlten, nickten zustimmend. Es waren brave, eingegrenzte Deutsche, die nur auf dem Bettvorleger barfuß gehen, und, seitdem es modern ist, auch im Barfußpark. Aber nur, weil sie wissen, dass am Ende die Fußdusche zuverlässig funktioniert. Der Vater hielt das strampelnde Kind im Klammergriff und die Mutter schnallte ihm klobige Teile an die Füße. Alle waren erleichtert, als das Kind resignierte und zu schreien aufhörte.

Es geschah an der Fußdusche.

 

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Ich war ganz überwältigt vor Zorn und Scham über die Missachtung einer Seele. Ich überlegte, ob ich laut und vor allen Leuten diesen Gewaltakt gegen die Freiheit und Unversehrtheit einer Person anprangern sollte. Ich schaute an mir herunter und sah die Plastikschlappen an meinen Füßen, wie sie sonst alte Männer in der Sauna tragen. Nein, ein Trampeltier wie ich hält keine flammenden Reden. Barfuß müsste ich dastehen, den ganzen Sommer nur barfuß gelaufen sein, Sand, Erde, Moos, Wald und Wiese mit den Sohlen gefühlt haben, mit allen Sinnen gelebt haben, dann könnte ich die Rechte eines Kindes verteidigen, das gerade zu einem Trampeltier gemacht wird. Aber es wehrt sich noch und schreit wie am Spieß. Was soll ich tun? Müssen wir nicht alle erwachsen werden und unseren Platz im Kreislauf von Produktion und Konsum einnehmen? Was soll es bringen, mit allen Sinnen zu leben und zu fühlen, wer lobt uns dafür, wer bezahlt uns dafür?

Ich war soeben im Barfußpark. Ich habe die Kinder gesehen mit leuchtenden Augen und mit flinken Füßen, die über Gras, Erde, Sand, Kies, Lehm und Mulch liefen, mit Wasser spritzten und über Stämme und Steinbrocken balancierten. Ich habe sie mit himmlischer Eleganz wie Engel schweben sehen und staunen über Blumen und Schmetterlinge am Wegrand. Vor dem Grün des Waldrands, dem Blau des Himmels und im Licht der Sonne erschienen sie mir wie Märchenwesen und ich selbst fühlte mich in eine bessere Welt versetzt. Doch nun müssen wir wieder zurück ins normale Leben mit klobigen Dingern an den Füßen. Mit unseren Fußfesseln spüren wir nichts mehr von der Vielfalt der Natur und vom Reiz des Lebens. Wir trampeln weiter im Kreislauf von Konsum und Produktion. Wir trampeln immer mehr Löcher in die schöne Welt, zerstören immer mehr Flächen, die wir in Betonwüsten umwandeln. Wo vorher die Blumen blühten,  hinterlassen die Karawanen der Trampeltiere Spuren von totem Asphalt. Nur wissen wir nicht, wohin diese letztlich führen werden.....

Ein paarmal habe ich junge Leute gesehen, die unverhofft ihre Schuhe ausgezogen haben und barfuß weitergegangen sind. Doch weil andere komisch geschaut haben, waren die Füße bald wieder gut verpackt. Den Boden zu fühlen, hat keinen Wert im Kreislauf von Konsum und Produktion. Wichtig ist, dass man sich alles leisten kann und gut aussieht! Doch kennen wir die Grundlage unseres Wohlbefindens noch? Haben wir noch Sinne, um zu erfahren, was die natürlichen Voraussetzungen unseres Lebens sind? Und sind wir noch fähig, diese zu erhalten und zu sichern?

Eher vermeiden wir, all dies zu denken und zu fühlen. Uns Trampeltieren steht es nicht zu, am überkommenen Wirtschaftskreislauf zu rütteln. Neulich sah ich im Stadtpark zwei Mädchen barfuß Nachlauf spielen. Aufrecht, voller Spannkraft, voller Leben, mit lachenden Gesichtern. Die Leute, die zusahen, schienen mir plötzlich einen Kopf größer zu werden. Gleich, so dachte ich, würden auch sie sich die Schuhe von den Füßen reißen und das Leben mit allen Sinnen spüren. Doch in solchen Augenblicken zischt es in uns: "Lass es! Nicht vor den anderen! Es sieht doch komisch aus! Halt dich zurück, du Trampeltier! Du Durchschnittstyp, es steht dir nicht an, den Lebensstil unserer Wohlstandsgesellschaft in Frage zu stellen!" Eine Sekunde waren wir aufrecht wie Engel, nun sind wir wieder bucklige Trampeltiere und schleppen unsere Last.

Eine Sekunde lang darf in uns die innere Stimme rufen, doch sie dringt schon lange nicht mehr nach außen.

Es geschah an der Fußdusche.

Das Leben auf freiem Fuß ist für die Engel da, nicht für mich und die anderen Trampeltiere.

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Der Autor Gunter Dueck hat zugestimmt, dass diese Abänderung seines ursprünglichen Texts Du Ziegelstein hier veröffentlicht wird.