von Sebastian Kneipp, Kempten 1892
Ganz kleine Kinder, welche noch gänzlich auf die Hilfe anderer angewiesen und in die Windeln, ins Tragekissen, ans Zimmer gebannt sind, sollen wo möglich nie eine Fußbekleidung tragen. Könnte ich dies doch allen Eltern, besonders den allzu besorgten Müttern als Kanon, als feststehende. unumstößliche Regel tief einprägen! Mit Vorurtheilen behaftete Eltern, die sich dazu nie verstehen wollen, mögen sich der kleinen Unbeholfenen erbarmen und zum Mindesten für eine solche Fußbekeidung sorgen, durch welche die frische Luft leicht auf die Haut dringen kann.
Kinder, welche bereits stehen und gehen können, wissen sich schon selbst zu helfen. Ohne alle Menschenrücksichten werfen sie die lästigen, die Füße quälenden Schuhe und Strümpfe von sich und sind ganz glückselig, besonders zur Frühjahreszeit, wenn man sie frei herumpusseln läßt. Manchmal blutet eine Zehe; doch das hält sie nicht ab, bald wieder barfuß zugehen. Die Kinder tun dies ganz instinktiv, einem gewissen Naturtriebe folgend den wir alle auch verspüren würden ,wenn die überfeinerte, schablonierende, Schraubstockdienst thuende, alles natürliche wegdrechselnde Bildung uns nicht vielfach den gesunden Sinn genommen hätte.
Die Kinder der Armen werden in ihrem Vergnügen selten gestört. Weniger in ihrem Glücke begünstigt sind die Kinder der Vornehmen und Reichen, und sie fühlen wahrlich nicht weniger das Bedürfnis als ihre Kameraden aus armem Stande. Ich sah einst die Knaben eines hohen angesehenen Beamten. Kaum glaubten sie sich aus der Schußweite der durchdringenden Augen des gestrengen Herrn Papa, da flogen auch schon die feinen Schühchen und die noch feineren rothen, gelben und weißen Strümpfchen über alle Hecken, und fort ging es im Galopp über die saftig grüne Wiese. Die Mama, eine Frau von gesundem Sinne, sah dies nicht ungern; erblickte aber zufällig der Papa seine Prinzen in solchem ungehörigen Aufzuge, dann gab es lange Strafpredigten noch längere Standesunterweisungen über Unbildung und Bildung und Standesgefühl und Standesehre. Das ging den Kleinen so tief zu Herzen, daß sie andern Tags noch munterer im Grase hüpften. Nochmals sage ich: lasse man wenigstens den noch nicht verbildeten Kindern ihre Freude!
Einsichtige Eltern, welche solches gerne gestatten wollten, aber in der Stadt leben und keinen einsamen Garten oder Rasenplatz besitzen, können den Kleinen das Barfußgehen zu gewissen Zeiten in irgendeinem Zimmer, auf irgend einem Gange und so weiter gestatten, wenn nur die Füße wie Gesicht und Hände zuweilen einmal frei aufatmen, nach Fußeslust frische Luft einsaugen, sich in ihrem Elemente bewegen können.
Erwachsene Leute der ärmeren Klassen, insbesondere auf dem Lande, brauche ich nicht zu ermahnen; dieselben gehen viel barfuß und beneiden nicht den reichsten Städter um seine vornehmen, ausgeschnittenen oder nicht ausgeschnittenen, lackierten geschnürten Fußfoltern, die pressenden und die Füße fesselnden Schuhe und Strümpfe. Törichte Landsleute und städtische Manieren, die sich schämen, es den Ihrigen gleich zu tun, sind durch ihren Eigendünkel gestraft genug; die altmodischen Konservativen sollen an der guten Tradition treu festhalten. In meiner Jugendzeit ging auf dem Lande alles barfuß: Kinder und Erwachsene, Vater und Mutter, Bruder und Schwester. In die Schule, zur Kirche waren die Wege Stunden weit; die Eltern gaben uns ein Stück Brot und einige Äpfel zur Reisezehrung, so auch Schuhe und Strümpfe als Fußbekleidung. Doch diese hingen viele bis zum Eintritt in die Schule oder in die Kirche über die Arme oder über die Achsel, nicht allein zur Sommers-, selbst in der kälteren Jahreszeit. Kaum machte im beginnenden Frühling auf der Höhe meiner Heimat der Schnee Miene, sich zurückzuziehen, das traten unsere bloßen Füße schon ihre Spuren in denen mit Wasser getränkten Boden, und wir fühlten uns froh, heiter und gesund dabei.
Erwachsene in den Städten, gar solche, welche besseren, ja den vornehmen Ständen angehören, können dieser Übung sich nicht unterziehen, das ist klar. Wenn sie in ihrem Vorurteile bereits so weit gekommen sind, daß sie meinen, sie könnten, wenn ihre zarten Füße beim Aus- oder Ankleiden nur einen Augenblick auf dem bloßen Boden des Salons, nicht auf warmen, weichen Teppichen stehen, Rheumatismus, Katarrh, Halsleiden und ähnliches sich zu ziehen, so lasse ich sie vollkommen ungestört. Wenn aber Manche noch etwas tun und sich abhärten wollten, was hindert sie, abends unmittelbar vor dem Schlafengehen oder in der Frühe beim Aufstehen 10 Minuten, 1/4 Stunde, 1/2 Stunde langen eine derartige Promenade zu machen? Dieselbe könnte die ersten Male, damit der plötzliche Beginn nicht zu stark empfunden wird, in den Strümpfen, später mit bloßen Füßen und noch später barfüßig also geschehen, daß vor dem Zimmer-Spaziergange die Füße bis über die Knöchel einige Augenblicke in kaltes Wasser getaucht werden.
Bei guter Einteilung, bei gutem Willen, bei wahrem Streben nach Erhaltung seiner Gesundheit wird ein jeder, selbst der Vornehmste, selbst der in seinem Berufe Angestrengteste noch soviel Zeit gewinnen, um sich selbst diese Wohltat zu spenden.
Ein mir sehr gut bekannter Priester ging jedes Jahr auf mehrere Tage zum Besuche eines guten Freundes, welcher einen größeren Garten besaß. Der Morgenspaziergang galt stets diesem Garten, dessen durch Tau genässtes Gras so lange die bloßen Füße labte und den Körper erquickte, als der Geist mit dem Breviergebet beschäftigt war. Gar oft hielt mir dieser Herr Lobreden auf die vortrefflichen Wirkungen des Barfußgehens.